Schrödingers Geschichtsschreibung

January 23, 2012 – tagged Politik

In Frankreich hat das Parlament das Leugnen offiziell anerkannter Genozide unter Strafe gestellt – damit auch den Völkermord an den Armeniern während des ersten Weltkrieges. Endlich: Hier hat mal ein westeuropäisches Land vor den Türken nicht klein beigegeben, sondern zeigt ihnen, was eine Harke ist! Eure Geschichtsklitterung – nicht mit uns! Oder?

Jetzt habe ich die merkwürdige Situation, dass ich mich in verschiedenen Ländern des Europas des 21. Jahrhunderts strafbar mache wenn ich a) behaupte, dass diese Verbrechen an den Armeniern kein Völkermord waren (Frankreich), und b) wenn ich das Gegenteil behaupte (Türkei). Nun gilt doch aber in diesen beiden Staaten seit fast 60 Jahren die Europäische Menschenrechtskonvention, die im Artikel 10 das Recht auf freie Meinungsäußerung einräumt, – da kommt natürlich die Frage auf, ob ich je nach Aufenthaltsort in Europa nur noch die Meinung äußern darf, die der jeweiligen Führung des jeweiligen Landes gerade genehm ist. Gerade diese absurde Situation, dass es eine Aussage zur Vergangenheit gibt, die zu äußern in einem Land verboten ist, und deren Gegenteil zu äußern in einem anderen Land verboten ist, lässt doch daran zweifeln, dass gesetzliche Vorgaben zur Meinungsäußerung ein adäquates Mittel zur Geschichtsschreibung sind.

Natürlich, auch in Deutschland gibt es per Gesetz verordnete Wahrheiten, darunter explizit die Verbrechen des Holocausts, vgl. § 130 (3) StGB. Das mag man in Ordnung finden und in der Tat wäre es wohl nur schwer erträglich, ständig Leuten zuhören zu müssen, die die Geschichtsschreibung nach 1945 als „Siegerjustiz“ oder „Jüdische Weltverschwörung“ verunglimpfen und die Verbrechen des Nationalsozialismus verharmlosen würden. Nur: Sollte dies eine Vorlage für ähnliche Fälle sein – oder nicht eher eine einmalige Ausnahme?

Gerne würde man sicher auch die Leugnung des Schießbefehls an der Berliner Mauer unter Strafe stellen, weil man die Geschichten der Alt-SEDler nicht mehr hören will. Oder die Behauptung, die CIA hätte die Attentate vom 11. September 2011 selbst verübt, weil dies schließlich bewiesenermaßen Osama Bin Laden war. Oder das Infragestellen des Klimawandels, weil es unbedingt notwendig ist, dass alle am Zwei-Grad-Ziel mitarbeiten. Aber mein Verständnis von Meinungsfreiheit ist das nicht.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung erstreckt sich eben nicht nur auf „Meinungen“ à la „rot oder blau“, „Mercedes oder BMW“, „SPD oder CDU“. Sondern aus dem Bewusstsein heraus, dass niemand für alles die richtige Antwort wissen kann – ja, dass es sogar für manche „Faktenfragen“ nicht einmal eine richtige Antwort geben kann (vgl. Gödel'scher Unvollständigkeitssatz oder Schrödingers Katze) – muss auch die Äußerung von „Faktenmeinungen“ frei sein; gerade solchen, die sich aus (durchaus vergänglichen) wissenschaftlichen Lehrmeinungen ergeben.

Vor diesem Hintergrund darf man dem französischen Parlament also ruhig vorwerfen, eben nicht in einer Weise gegen die türkische Geschichtsvergessenheit gehandelt zu haben, die einer westlichen Demokratie würdig ist. Im Gegenteil, hier werden – zu welchem Zweck auch immer – auf dem Altar politischer Machtspiele auch die Werte der Französischen Revolution geopfert.